Inhaltsverzeichnis:
1.Einleitung
2. Begriffsdefinitionen
2.1 literarisches Motiv
2.2 Funktionen
2.3 Das Stadtmotiv
2.3.1 Abgrenzbarkeit
2.3.2 Entwicklung
2.3.3 Entstehungsfrage
3. historisch-kulturelle Rahmenbedingungen der Romantik
4. Analyse romantischer Werke
4.1 Ludwig Tiecks Phantasus
4.1.1 Kurzinhalt
4.1.2 Stadtdarstellung
4.1.3 Motivbildung
4.2 E.T.A. Hofmanns Des Vetters Eckfenster
4.2.1 Kurzinhalt
4.2.2 Stadtdarstellung
4.2.3 Motivbildung
4.3 Stadtwahrnehmung in der Romantik
5. Urbanisierung in der Moderne
6. Naturalistische Theorien
7. Analyse von Max Kretzers Meister Timpe
7.1 Kurzinhalt
7.2 Darstellung der Stadt
7.3 Motivbildung
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Seit Mitte des 18. Jahrhunderts hat sich das Zusammenleben der Menschen durch die Urbanisierung in grundlegender Hinsicht verändert. Die Städte entwickelten sich zu den Zentren des gesellschaftlichen Lebens. Von dieser Entwicklung und Veränderung der Lebensumstände ist auch die Literatur nicht unberührt geblieben. Die Literatur der klassischen Moderne hat die Stadt zum Mittelpunkt des Geschehens gemacht. Doch die Anklänge dieser Entwicklung hin zur urbanisierten Literatur lassen sich bis in das 18. Jahrhundert in die Strömung der Romantik zurückverfolgen. Seither hat sich das Thema Stadt von seinem Aufgreifen in der Literatur der Romantik bis in die Moderne stark verändert. Während die Literatur der Romantik sie noch als Ort der Handlung, mit ihren architektonischen Eigenheiten und den neuen Formen des Zusammenlebens darstellte, hat die Moderne sie zum Ausgangspunkt der Entstehung literarischer Texte gemacht, indem sie die Großstadt in allegorisierter Form als festen Teil der Handlung betrachtet. Das Motiv der Stadt bzw. Großstadt findet bis heute Einzug in die Literatur und gehört längst zum Repertoire jüngster Literatur.
Hier zeigt sich, in welcher Weise das Stadtmotiv an Relevanz für die Literatur gewonnen hat. Doch es liegt ein langer Weg zwischen dem Aufgreifen des Motivs in der Romantik bis hin zur vielfältigen Ausgestaltung der Stadt zum Ort der Ambivalenz, dem es gelingt, so zahlreiche Anreize zur Entstehung von Literatur durch seine Eigenschaften als Lebensraum zu bieten.
Diese Arbeit möchte daher den Weg dieser Ausdifferenzierung des Stadtmotivs in der Literatur nachzeichnen. Beginnend mit einigen für diese Entwicklung repräsentativen Texten wird eine Darstellung dieses Zusammenhangs verfolgt, der den Entwicklungsprozess dieser Thematik nah am Werk aufzeigen soll. Hierzu sollen zwei Erzähltexte der literarischen Romantik von Tieck und E.T.A. Hoffmann zur Analyse und Darstellung dienen.
Dem folgt eine Darstellung der Stadt als Motiv in der modernen Literatur, um einen Zwischenhalt in der Entwicklung dieses Motivs festzumachen und dessen Eigenheiten zu definieren. Hierfür soll die literarische Strömung des Naturalismus mit einem Erzähltext herangezogen werden, da die Ambitionen der naturalistischen Literatur einen entscheidenden Beitrag in der Thematik die Stadt als Ort des Lebens liefern, die für spätere Entwicklungen wie beispielsweise dem Expressionismus, den Grundstock bieten. Denn der Naturalismus ist eine Bewegung, die erstmals durch ihre Milieutheorie, die Stadt als Lebensraum dem Menschen überordnet, indem sie sein Leben maßgeblich bestimmt. Der Determinismus, der durch diese Ansichten zum Tragen kommt, findet sich in der Literatur, die auf diese literarische Strömung folgt, wieder, und kann somit als Ausgangspunkt für den bis heute aktuellen Diskurs der Großstadt in der Literatur dienen.
Dabei sollen auch die kulturhistorischen Veränderungen und damit die Rahmenbedingungen der Entstehung dieser Literatur skizziert werden, um im Anschluss einen Niederschlag in der Literatur nachzuweisen. Es soll letztendlich ein literaturwissenschaftlicher Eindruck vom Thema (Groß-)Stadt entstehen, der es ermöglicht, die vielfältigen Entwicklungen, die in den Jahren zwischen Romantik und Moderne liegen, greifbar und vergleichbar zu machen.
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Diese Arbeit versucht zunächst mittels der Definition des literarischen Motivs sich der Thematik der Motivbildung zu nähern. Denn um von der Stadt als zentralem Motiv der Literatur zu sprechen, bedarf es einer Darstellung dessen, was ein Thema in der Literatur zu einem Motiv werden lässt und wie sich ein solches definiert. Anhand dieser Ausführungen wird schließlich ein Ansatz geliefert, der den Untersuchungen der Motivwerdung darstell- und erklärbar macht.
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Als Motiv betrachtet man allgemein der Definition nach, einen Bewegungsgrund einer menschlichen Haltung oder Handlung. In der Literatur manifestiert sich dies als ein stofflich-thematisch und situationsgebundenes Element, dessen Grundform zum Schema literarischer Texte geworden ist.
Damit liefert diese Definition einen allgemeinen gültigen Ansatz, der für die Zwecke dieser Arbeit jedoch einer eingehenderen Differenzierung bedarf. Denn um den hier vorliegenden Gegenstand zu betrachten, sind mehr Merkmale vonnöten, als diese allgemeine Darstellungsweise liefern kann.
Wie in der allgemeinen Definition dargelegt, umfasst das Motiv inhaltliche und thematische Zusammenhänge und ist damit auf der Bedeutungsebene des Textes angesiedelt. Es stellt dabei die kleinste selbstständige Inhaltseinheit dar. Es grenzt sich aber vom Begriff des Stoffes ab, da diesem ein komplexeres Gebilde von zeitlich-, räumlich- und personen-abhängigen Zusammenhängen zuteil ist. Es handelt sich beim Motiv viel mehr um ein Schema, das unabhängig von Zeit, Raum und Personen existieren kann. Denn trotz seiner Inhaltsbezogenheit, muss es keinem spezifischen historischen Kontext unterliegen. Man spricht hier auch von einer geschichtlichen Verschiebbarkeit des Motivs. Es ist vielmehr in einen intertextuellen Kontext eingebunden, der sich durch die weiteren vorhandenen Elemente des Inhalts definiert. Es kann damit durchaus textbildend, wie auch textstrukturierend wirken. Das Motiv wird damit zu einer Art Schablone, die sich aus den Texten herausfiltern lässt.
Da sich das Motiv aber auf einen veränderbaren inhaltlichen Zusammenhang bezieht, kann sich seine Funktion im Text ebenso verändern. Eine Frage nach dem Motiv eines Textes, wird damit immer auch zu einer Frage nach der Funktion des Motivs, die je nach Relevanz für die Struktur und Inhalt eine völlig verschiedene sein kann.
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Motive können auf der Ebene ihrer Funktion nach grob als vertikal oder horizontal bestimmt werden. Bei der horizontalen Sichtweise des Motivs, wird der Text als eine Folge von Ereignissen betrachtet, die auf ihre Motive und die daraus folgende Motivation, das heißt den Anreiz, den das Motiv zum Auslösen von Handlungen liefert, betrachtet. Dieser Einteilung nach kommt dem Motiv damit eine eher untergeordnete Rolle zu, da ein Motiv zu einem Teilaspekt eines Textes wird, wenn es als Bestandteil einer Reihe von möglichen Motiven angesehen wird. Nach KAYSER ergibt sich diese Wahl der Motive als eine Folge aus ihrer Nähe zu bestimmten Gattungen der Literatur. Allerdings kann ein solcher Zusammenhang nicht in jedem Fall Bestätigung finden, da das Motiv der Stadt ein vielschichtigeres sein kann, das sich nicht immer nur als kleiner Aspekt einer Handlungskette in Erscheinung tritt. Abhängig vom Text kann dies aber durchaus eine ausreichende Definition in Bezug auf das Stadtmotiv darstellen. Dies ist abhängig vom Text und dem darin vorangeschrittenen Entwicklungsstadium des Motivs Stadt. Es kommt folglich auf die Rolle und Funktion des Motivs im Text an. Damit geht auch immer eine Gewichtung der Bedeutung des Motivs für die Gesamtgestalt des Textes einher. Nach horizontaler Sichtweise tritt das Motiv demnach in Erscheinung indem es den Anreiz zu Handlungen bietet um die Handlung fortzuführen. Es ist aber davon auszugehen, dass der Punkt der bloßen Motivierung nicht überschritten wird. Komplexe Motive wie das der Stadt können relevante Merkmale umfassen, die mehr als nur handlungsauslösend wirken.
Eine weitere Kategorisierung des Motivs wird durch die vertikale Sichtweise vorgenommen. Diese teilt das Motiv gewissermaßen nach ihrer Relevanz im Werk ein. Das heißt wenn ein Motiv wie bereits angedeutet, textbildende und textstrukturierende Komponenten aufweist, erweist es sich als hilfreich, das Hervortreten des Motivs zu analysieren. Man kategorisiert demnach mit dem Grad an textbildender und textstrukturierender Funktion. Grob betrachtet, bedeutet dies die Einteilung in Haupt- und Nebenmotive. Man blickt dazu mit einer Art Makroansicht auf den gesamten Text und bestimmt ein primäres Kernmotiv, sowie ihm untergeordnete Nebenmotive. Folglich erlangt das Motiv durch eine Stellung als Kernmotiv eine weitaus höhere Bedeutung als in der horizontalen Sichtweise. Es kann sich weiteren vorhandenen Nebenmotiven als übergeordnet darstellen. Auch dieser Sichtweise nach enthält ein Text eine Reihe an Motiven. Jedoch ohne dass man versucht ist, diese als eine feste Abfolge zu betrachten, sondern diese vielmehr als von oben auf den Text einwirkende Faktoren zu betrachten, womit das Motiv den Text hinreichender beeinflusst. Die Nebenmotive eines literarischen Textes lassen sich zudem in weitere Motive mit kleineren Funktionen zersplittern. Genannt seien hier Motive mit Randstellung oder sogar der Funktion des Ausfüllens eines Textes. Ebenso finden sich dabei Motive, deren Funktion für die Struktur kaum auszumachen ist. Die Rede ist hier von blinden Motiven nach der Definition PANZERs. Es dient mehr einer atmosphärischen Verdichtung als einer wirklichen textbildenden Funktion. Die Untersuchung der einzelnen Texte wird schließlich zeigen, nach welchen Sichtweisen es sinnvoll ist, ein Motiv zu kategorisieren.
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Um von einem Motiv geschlossen sprechen zu können, bedarf es weiterhin der Möglichkeit, dieses von anderen thematischen Zusammenhängen abzugrenzen. Das Motiv der Stadt erwächst dabei aus einem Gegensatz zum Land als Kontrastmittel zur Stadt. Die Grenzen zwischen diesen beiden später konstituierten Gegensätzen verlaufen zunächst noch fließend, bis sie zum absoluten Gegensatzpaar in der Literatur werden. Wodurch man von einem nahezu vollständig abgrenzbaren Motiv sprechen kann. Die Entwicklungsanfänge des Stadtmotivs lassen aber dennoch ein Hausgreifen des Motivs zu. Da das Stadtmotiv höchstens mit anderen Motiven der Kategorie Raummotive in Verbindung stehen kann.
Der Stadt-Land-Gegensatz erwächst aus der Assoziation von Land als einen Raum, der naturgegeben und nicht von Menschen geschaffen ist. Man assoziiert das Land mit Freiheit, Gesundheit und Individualität. Während man die Stadt später, d.h. in der Moderne, angestoßen durch den aufkommenden Determinismus der Naturalisten, vor allem mit Macht, Masse und Zwang verbindet. Die Landschaft steht somit für Offenheit, während die Stadt Fortschritt und beengende Wirklichkeit zugleich ist. Darin drückt sich bereits eine ambivalente Haltung gegenüber von Menschen geschaffenen Institutionen aus. Damit stützt sich die Gegensätzlichkeit dieser beiden Motive vor allem auf einsetzende Entwicklungen der industrialisierten Gesellschaft, die das Land zu einem Idealbild stilisieren.
Aus dieser einfachen Dichotomie erwachsen schließlich auch die negativen Assoziationen der Stadtthematik, die sich vor allem in der Moderne abzeichnen.
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Die Entwicklung des Stadtmotivs zum Kernmotiv der Literatur führte zur Herausbildung des Begriffes der Stadt- bzw. Großstadtliteratur. Dennoch sind die Bedingungen unter denen von einer Stadtliteratur gesprochen werden kann nicht hinreichend definiert. Es ist daher unklar, wann genau von einer Großstadtliteratur gesprochen werden kann. Es existieren jedoch Ansätze, die versuchen eine solche Definition zu liefern. So spricht KLOTZ von einer Literatur, deren Stil, Sicht und Aufbau von der Stadt geprägt ist. Diese Definition scheint jedoch angesichts ihrer allgemeinen Formulierung noch zu unpräzise. Einen differenzierteren Ansatz liefert THALMANN, indem sie eine Literatur als großstädtische auffasst, die einen Hang zur Phantastik, einen Manierismus zur Stadt, sowie eine Tendenz zum Allegorischen aufweist. Diese Bedingungen sieht sie vor allem in der Literatur der Romantik bestätigt, insbesondere in den Werken des Dichters E.T.A. Hoffmann, dem im Verlauf der Arbeit noch auf den Grund gegangen wird.
Die Beschreibung des Manierismus deckt sich dabei weitestgehend mit der Definition KLOTZs, die von einer Prägung der Literatur durch das Thema Stadt ausgeht. Es bleiben folglich die Aspekte der Phantastik und der Tendenz zum Allegorischen, die durch THALMANNs Ausführungen in diesen Diskurs eingeführt werden. Die Phantastik versteht sich in diesem Zusammenhang, als eine auf realistischen Begebenheiten fußende Handlungswelt, die zunehmend durch unrealistische Elemente eine Wirklichkeit erschafft, die fernab einer tatsächlich existierenden Wirklichkeit liegt.
Auf diesen Zusammenhang soll in der Analyse des Textes Des Vetters Eckfenster von E.T.A. Hoffmann noch eingegangen werden, es genügt daher hier diese kurze Erläuterung. Der nächste Punkt, die allegorisierende Funktion der Stadt, ist ein Funktionszusammenhang, der die vielseitigen Aspekte der Darstellung der Stadt als Phänomen zu vereinen versucht. Man spricht im Zusammenhang der Allegorie von der Erschaffung eines fassbaren Bildes, welches versucht, die Stadt als geschlossenes Phänomen greifbar und darstellbar zu machen. Hierzu werden beispielsweise Personifikationen verwendet, die durch Reduktion auf wesentliche Zusammenhänge des Phänomens der Stadt versuchen eine Veranschaulichung eines komplexen und in seiner Gesamtheit unbeschreibaren und unfassbaren Gegenstandes, in seinen Wesensmerkmalen zu benennen.
Es zeigt sich, dass der Ansatz den THALMANN verfolgt, von ihr plausibel anhand der Untersuchungen nachgewiesen wurde. Er wird daher auch als für diese Untersuchung maßgebend anerkannt und dient somit als Anhaltspunkt zur Beschreibung der Entstehung von Stadt- bzw. Großstadtliteratur in der Romantik.
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Eine Frage, die sich bezüglich dieser Ausführungen auftut, ist weshalb es zu einer Herausbildung eines solchen Motivs kam, beziehungsweise worin ihre Berechtigung liegt. SCHERPE argumentiert in diesem Zusammenhang, dass es sich bei der Stadt um ein Phänomen handle, dass in einer Komplexität nicht mehr zu beschreiben ist. Um dennoch dieser Thematik gerecht zu werden, bedarf es daher der bereits angesprochenen Reduktion der Komplexität zu Bildern, die in diesem Fall zur Bewältigungsstrategie der Komplexität werden. Die Funktion der metaphorischen Rede über die Stadt, mit ihren Bildern, den Mythen und der kollektiv geschaffenen Symbolik, liegt in der Entlastung, in einer „[…] affektive[n] Abwehr eines ‚Zuviel‘ […] ([der] sog. Reizüberflutung) […].
Das zunehmende Hervortreten dieser Erscheinungswelt führt zu einem wachsenden Bedürfnis die „[…] Bilder zurückzuverwandeln in einfache Essenzen […]“.
Erinnert man sich hier an die vorangegangene Aufteilung der Motive in vertikal und horizontal, so wird deutlich, dass das Stadtmotiv in diesem Fall zu einem komplexen Gebilde anwächst, dass nicht nur Teil der Handlung - im Sinne horizontaler Ausrichtung - wird, sondern auch in der Lage ist, diese zu determinieren und damit eine übergeordnete auf vertikaler Ebene angesiedelte Stellung einzunehmen.
Dabei handelt es sich keinesfalls um ein bloßes Bestreben der modernen Literatur. Die Entstehung eines Archivs von kulturellen Großstadtmythen setzt bereits vor der Moderne ein, und wird geradezu in diese tradiert und neu formiert. Das Stadtmotiv ermöglicht zusammenfassend ausgedrückt: Die Homogenisierung der heterogenen Lebenswelt durch die symbolische Rede. Die einzelnen Symbole sind sehr vielfältig ausgeprägt, lassen sich aber in zahlreichen Werken der Stadtliteratur nachweisen.
Eine weitere Strategie zur Reduktion der Komplexität ist nach SCHERPE, die Herausbildung von Wahrnehmungsmustern. Dies umfasst ebenso eine Minimalisierung der wahrnehmbaren Aspekte und die Kanalisierung von Eindrücken in diesen Mustern der Wahrnehmung. Derartige Muster entwirft auch THALMANN indem sie ihren Ausführungen zur Entstehung des Stadtmotivs in der Romantik, eine Einteilung in die Überschriften: „Das Haus“, „Die Straße“, vorausschickt. Doch diese Regulierung der Wahrnehmungstätigkeit bietet noch weit differenzierte Ordnungsmuster an, wie weitere Ausführungen beweisen.
Ein weiterer Versuch zur Kategorisierung der Wahrnehmung wird von HÅRD und STIPPAK unternommen, die die Wahrnehmung der Stadt in „die nervöse Stadt“, „die überwältigende Stadt“ sowie in „die monotone Stadt“ auflösen. Diese Einteilungen werden dabei an der Moderne statuiert, sollen aber bereits in Ansätzen in der Romantik nachgewiesen werden, um den Entwicklungsgang zur Moderne zu skizzieren.
Die Wahrnehmungsmuster versuchen schließlich Kategorien zu bilden, die den Raum Stadt weiter in seine Bestandteile zergliedert (THALMANN), oder indem bestimmte Teilaspekte herausgegriffen werden, um diese einer Wertung zu unterziehen (HÅRD/ STIPPAK). Durch die räumliche Zergliederung lässt sich die Stadt in vielen Teilphänomenen ausdrücken, wie Märkten, Häusern, Straßen, Passagen und Fenstern. All diesen Teilstücken ist die Stadt als übergreifendes Phänomen übergeordnet.
Wahrnehmungsmuster, die einer Wertung unterlegen sind, entstanden durch den bereits angesprochenen Stadt-Land-Gegensatz. Um welche Muster es sich im Einzelnen in der Romantik und Moderne handelt, soll im Weiteren anhand der Textproben dargestellt werden. Eine Differenzierung der genauen Darstellungsart des Motivs, sowie deren Bedeutung für das Werk als Ausdruck einer zeitlich- und strömungsbedingten Tendenz, soll nach abschließender Analyse einzelner Texte erfolgen.
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3. historisch-kulturelle Rahmenbedingungen der Romantik
Damit hier eine Vorstellung dessen geschaffen wird, welche Eindrücke dem Menschen des 18. Jahrhunderts vorlagen, soll im nächsten Abschnitt der Versuch unternommen werden, einen Abriss der gesellschaftlichen Entwicklungen dieses Zeitraums zu liefern. Ohne diesen Blick in die Geschichte droht eine Übertragung heutiger Verhältnisse auf die damaligen, da diese in einigen Punkten kongruent sind. Hier seien vor allem die grundlegenden Merkmale der Urbanisierung genannt, wie die allgemeine Veränderung durch demographischen Wandel, die Verdichtung der Einwohnerzahlen in einem Lebensraum, sowie die Bildung von Ballungszentren als Ausdruck der Verstädterung.
Ein wichtiger Punkt zur Entwicklung der Städte, der gleichzeitig auch deren Charakteristikum bildet, ist die steigende Mobilität im 18. Jahrhundert. Nicht umsonst entstand in dieser Zeit ein Großteil dessen, der uns heute als Reiseliteratur vertraut ist. Menschen verharren zunehmend nicht mehr an ihren Geburtsorten, sondern sind bestrebt Orte zu finden, an denen sich hinreichendere Möglichkeiten ihrer Lebensgestaltung bieten. Vor allem Studenten wechselten häufig die Wohnorte um aus einer Auswahl an Universitätsstädten zu wählen. Dennoch kann der größere Teil der Bevölkerung im 18. Jahrhundert als immobil betrachtet werden. Doch die Städte übten auf die nahliegende ländlich geprägte Bevölkerung eine große Anziehungskraft aus, was zur zunehmenden Verstädterung des Landes führte, indem Grenzen zwischen Stadt und Land sich allmählich auflösten.
Die Städte boten schlichtweg bessere Erwerbschancen und zogen neben den Landbewohnern auch sogenanntes fahrendes Volk an. Damit bot sich dem Stadtbewohner des 18. Jahrhunderts bereits eine überregionale Gemeinschaft, die zwangsläufig neue Erfahrungsräume eröffnete. Aber auch die bereits angesprochenen Reiseberichte machten den sesshaften Menschen die fremden Eindrücke bekannt. So gelangte man gewissermaßen ein wenig in den Erfahrungsbereich der Städte dieser Welt, ohne selbst zu reisen. Um diese Verhältnisse ein wenig anschaulich zu machen, sei erwähnt, dass zu den Großstädten Deutschlands nach heutiger Definition Berlin und Hamburg zählten, mit etwa 172.000 und 130.000 Einwohnern. Weitere Städte zählten nur Bewohner unterhalb der 100.000er-Grenze.
Von einer umfassenden Urbanisierung kann daher noch kaum die Rede sein, allerdings wuchs bei den Menschen durchaus ein Bewusstsein zur Stadt, was sich auch zunehmend in der Literatur widerspiegelte.
Doch die Romantiker nahmen die Stadt noch sehr selektiv wahr, soziale Grenzen wurden kaum überschritten, und somit war der Aktionsradius etwas eng gesteckt. Trotz der noch nötigen Entwicklungen des Stadtbewusstseins gehörten zum Städter des 18. Jahrhunderts bereits Phänomene wie Straßen, öffentliche Plätze, Restaurants, Cafés und vor allem viele Menschen. Eine Fremdheitserfahrung wurde dabei aber weitestgehend nicht zugelassen. Das heißt ein Aufeinandertreffen von Gegensätzen und dem damit verbundenen Aufkommen völlig neuer Erfahrungen im Lebensumfeld der Stadt blieb damit aus.
Was die Stadt im 18. Jahrhunderts aber dennoch bieten konnte, war die Erweiterung des Blickes auf die Menschen. Man erkannte allmählich, dass man hier ein neues Phänomen vor sich hatte, das ganz anders beschaffen schien, als das in seinen Strukturen fixiertere Landleben. Es war daher nur eine Frage des Entwicklungsstandes bis auch soziale Grenzen überwunden wurden, was schließlich neue Formen des Zusammenlebens hervorbrachte.
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4. Analyse romantischer Werke
Um sich nun wieder der Literatur zu widmen, sollen die Ausführungen exemplarisch an einem Text untersucht werden. Dazu wurden zwei Texte der Romantik ausgewählt, da sie, obwohl beide einer Strömung und Zeit entstammen, Gegensätze aufweisen. Das rührt daher, dass der erste Text der hier untersucht werden soll – Das Märchen Der Pokal aus Tiecks Phantasus – nur in zeitlicher Relation zum darauffolgenden Text – Des Vetters Eckfenster von E.T.A. Hofmann – steht. Während Tiecks Märchen gewissermaßen prototypisch für den romantischen Stadtdiskurs steht, greift Hoffmanns Erzählung Aspekte auf, die bisher in der deutschen Romantik weitestgehend unerforscht waren. Es zeichnet sich somit bereits innerhalb dieser literarischen Strömung eine Entwicklung ab, die man als vormodern bezeichnen könnte, da hier eine Akzentverschiebung im Stadtdiskurs stattfindet.
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4.1 Ludwig Tiecks Phantasus
Die folgende Analyse soll mit einem Märchen aus dem Phantasus von Tieck beginnen. Es handelt sich hierbei um die Erzählung der Pokal, die man heute innerhalb des Werkes neben der Erzählung Liebeszauber zu den sogenannten Stadtmärchen zählt. Dabei handelt es sich keineswegs um eine Ausnahme in der Literatur der Romantik. Von inhaltlichen wie auch darstellerischen Aspekten kann diese Erzählung als prototypisch für die Romantik gesehen werden, weil sie sich weitestgehend mit dem Zeitgeist anderer Werke deckt.
Auch wenn die Erzählung selbstverständlich an vielen Stellen ihre Eigenheiten besitzt, so kann man sie doch, für diese Untersuchung als einen Querschnitt romantischen Erzählens betrachten.
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Beim Märchen der Pokal handelt es sich kurz gesagt um eine Liebesgeschichte zwischen dem Träumer Ferdinand und einer jungen Frau. Ferdinand schwelgt mehr in Erinnerungen als der Gegenwart anzugehören. Er lebt in einer Stadt, die für ihn als eine Durchgangsstation auf seinem Lebensweg gedacht war, in der er aber nun seit mehr als einem Jahr verweilt. Er wird sein ganzes restliches Leben hier verbringen. An einem Dom, einem wichtigen Umschlagplatz der Stadt im 18. Jahrhundert, lernt er das junge Mädchen kennen. Er hegt Gefühle für die Unbekannte, die sie schließlich erwidert. Jedoch aufgrund ihres ungleichen Standes, bzw. sozialen Ranges, scheint es für die beiden unmöglich ihre Gefühle öffentlich auszuleben. Um Gewissheit über seine Zukunft mit seiner Angebeteten zu bekommen, wendet er sich schließlich an einen Magier und Alchemisten, der versucht ihm die Zukunft mittels seiner Fähigkeiten vorauszusagen. Ab dieser Stelle entwickelt sich die Erzählung zu einem Wechselspiel aus Realismus und Phantastik, eingebettet in eine zum Scheitern verurteilte Liebesbeziehung.
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Tieck lässt seine Erzählung am bereits erwähnten Domplatz beginnen, der für Ferdinand gewissermaßen zum Ort der Erinnerung geworden ist, da er an dieser Stelle vor einem Jahr seine Geliebte das erste Mal traf. Dabei werden dem Leser die Eindrücke des Domplatzes wiedergegeben, jedoch ohne, dass sie aus der Sicht Ferdinands geschildert werden. Dadurch kann man hier von einer Objektivierung der Erzähl- und Darstellungsweise ausgehen, die zu Anfang der Handlung für einen gewissen Realismus spricht.
Es „[…] erscholl das vormittägige Geläute “ (S.234) und über “den weiten Platz wandelten in verschiedenen Richtungen Männer und Weiber, Wagen fuhren vorüber und Priester gingen in ihre Kirchen“. Diese gewöhnliche Szene des Stadttreibens, zeigt die für Ferdinand zur Selbstverändlichkeit gewordenen Eindrücke. Fast gelangweilt „[…] den Wandelnden nachsehend […]“ verweilt er an diesem Platz um sich passiv den Eindrücken hinzugeben, die in ihm dennoch gewisse emotionale Regungen hervorrufen, indem er sich davon angeregt, in Erinnerungen verliert, die in seinem Gedächtnis aufsteigen. Danach folgt eine Beschreibung der Ereignisse, die vor einem Jahr an diesem Platz stattgefunden haben. Damit klingt in bescheidener Form ein Voyeurismus an, dem sich Ferdinand hingibt wenn er den Ort besuchte um „[…] Frauen und Mädchen zur Messe kommen zu sehn […]“ (S.235). Was zunächst als Gleichgültigkeit erscheinen mag, zeigt sich als Spiel der Eindrücke. Denn mit „[…] lächelndem Auge hatte er die mannichfaltigen Gestalten betrachtet […]“ und „[…] mancher holde Blick war ihm schalkhaft begegnet […] und manche jungfräuliche Wange war erröthet […]“. Sein „spähendes Auge sah den niedlichen Füßchen nach, wie sie die Stufen herauf schritten […]“. Dieses zum Spiel gewordene Beobachten von Menschen des Marktplatzes hat für ihn als eigentlich Fremden in dieser Stadt einen Status der Gewohnheit entwickelt. Schließlich entschließt er sich, diesen Ort nicht mehr zu verlassen auch wenn seine Freunde ihn ungeduldig in der Heimat erwarten, denn „[…] sein Herz war umgewendet.“ So schließt der Erzähler hier mit der Aussage: “[...] aber von nun an war hier sein Vaterland [...]”.
Wie bereits erwähnt, stellte ein solches Verhalten eher die Ausnahme dar, zumindest im Leben der einfachen Menschen. In der Literatur der Romantik, die von Sehnsucht geprägt ist, ist es jedoch kein ungewöhnliches Thema. Damit erhält die Erzählung gewissermaßen einen Charakter von Reiseliteratur. Sie thematisiert das Verlassen der Heimat zu Gunsten neuer, ungewisser und aufregender Eindrücke. Diese Funktion erfüllt für Ferdinand das Stadtleben. Die Entscheidung die eigentliche Heimat auf dem Lande hinter sich zu lassen, ist eine ausdrückliche Bejahung seiner neuen Lebensumstände. Wenn auch sehr bescheiden, so klingt doch hier eine Faszination Ferdinands für das Treiben der Stadt seitens des Erzählers an. Selbstverständlich ist das noch keine sich stark abzeichnende Entwicklung der Literatur. Sie zeigt aber dennoch einen beginnenden Prozess der Veränderung der Gesellschaft, die sich allmählich auch literarisch manifestiert. Immer noch sehr augenscheinlich sind die Unterschiede des sozialen Standes. Denn obwohl seine Geliebte und er sich diesen Lebensraum erschlossen haben, bleiben sie doch durch die sozialen Grenzen getrennt. Dies ist keineswegs ein Phänomen von städtisch geprägten Erzählungen, sondern lässt sich in beliebigen Texten nachweisen. Es soll hier dennoch der Behauptung, dass die sich entwickelnden Stadtmenschen noch keinen Blick hinter diese Grenzen wagen und sich größtenteils noch auf den etablierten Ebenen der sozialen Differenzierung bewegen. Überschreitungen dieser Art hat es aber auch in vom Ländlichen geprägten Erzählungen gegeben.
Im Fortschreiten der Handlung werden allerdings auch Aspekte des Handlungortes beleuchtet, die in ihrer Bewertung und emotionalen Färbung wohl eher Texten moderner Literatur nahekommen. Auch wenn diese Tendenzen eher vage erscheinen, so lassen sich dennoch gewisse Muster wiedererkennen, die die Moderne später für sich entdeckt hat. So wird an einer Stelle des Textes die Stadt als ein Ort beschrieben, aus dem seine Angebetete heraussticht. Verwendet werden hier Attribute, die besonders der Natur zugerechnet sind. Denn “[...] sie leuchtete ihm wie eine Sonne aus der verworrenen Menge hervor.” Mit der angedeuteten Verworrenheit erhält der Handlungsort Stadt zusätzlich zur bereits erfolgten Beschreibung neue Merkmale, die nicht mehr bloß positiv im Sinne eines neuen Erlebens von Eindrücken zu betrachten sind. Die Verworrenheit der Menschenmenge spricht für eine Unübersichtlichkeit, eine Wahrnehmung, die nicht mehr fähig ist, geschlossene Eindrücke hervorzubringen. Aus diesem Milieu hebt sich die Geliebte hervor. Der Domplatz als Ort des Zusammentreffens wird für Ferdinand immer mehr zum Ort der Imagination, in den er seine Phantasien mit ihm und seiner Geliebten projiziert. Durch das Verschwinden seiner Geliebten von der Messe „[…] war ihm wie dem müden verirrten Wanderer, dem im dichten Walde der letzte Schein der untergehenden Sonne erlischt.“ (S.237). Damit bedient sich der Erzähler weitestgehend einer Bildsprache, die an den Gegensatz von Stadt und Land angelehnt ist. Die Stadt wird hier mit Hilfe der Bildsprache der Natur zur Metapher durch den Wald gemacht. Der dichte Wald steht bildlich gesehen für das Treiben der Stadt, dass Ferdinand umgibt und zerstreut. Der städtische Hintergrund der Handlung erfährt damit nicht nur einen Vergleich mit natürlichen Zusammenhängen, er wird gleichzeitig zum Ort der Imagination durch Ferdinand in dem er sich in naturhafter Träumerei zu verlieren glaubt. Denn er erwacht aus diesem Traum als sein Freund Albert auf ihn trifft.
Das traumhafte Verwirrspiel der Stadt findet jedoch erst seinen eigentlichen Anfang, als Ferdinand zusammen mit Albert “[...] in einer abgelegenen Straße in ein großes Gebäude [...]” eintreten. (S.237). Den oberflächlichen Eindruck, den dieses Haus von innen liefert erweist sich für Ferdinand als ein Trugbild, dass einem Irrgarten gleicht. “Sie gingen durch viele Gemächer, [...] Treppen; Gänge empfingen sie, und Ferdinand, der das Haus zu kennen glaubte, mußte sich über die Menge der Zimmer [...] [und] [...] die seltsame Einrichtung des weitläufigen Gebäudes verwundern.” Die Figur des Freundes Albert eröffnet Ferdinand mit dem Besuch des Gebäudes Räume, die denen seiner Phantasien nicht unähnlich sind. Ebenso wie das Gewimmel am Domplatz, aus dem seine Geliebte ihm in einer in Natursprache stilisierten Gestalt hervortritt, verlieren sich die Räume in einem scheinbar unendlichen Gewimmel aus weiteren Räumen und der Einrichtung. Verglichen mit der vorherigen Situation auf dem Domplatz scheint das Haus mit seinen unendlich erscheinenden Eindrücken Ferdinand geradezu zu verschlingen. Die Gegenstände von denen das Zimmer gefüllt ist, werden kaum mehr beim Namen genannt. Auch THALMANN erwähnt in einer Deutung des Textes: “Jedes Haus hat sozusagen Hinterzimmer, in dem die Dinge stehen, [...] die zu den Chiffren unseres Daseins geworden sind.”
Ebenso verwirrt wie sich Ferdinand in dieser Situation zu fühlen scheint, ergeht es auch dem Leser, dem eine sehr hohe Dichte an Eindrücken durch den Erzähler geliefert wird. Das Haus in diesem Abschnitt der Erzählung wird zu einer Pforte zur Innerlichkeit Ferdinands. Eine Reise ins Innere der Stadt wird für ihn zur Reise in sich selbst. In alchemistischen Experimenten versucht er das Innere seines Herzens und seiner Liebe zu ergründen. Das Bild was hier von der Stadt gezeichnet wird, ist ein durch romantische Beschreibungen verklärtes. Auch wenn zu Beginn der Erzählung dem Erzähler ein gewisser Realismus nachgesagt werden kann, so löst sich dieser im Fortschreiten der Handlung zugunsten einer Phantastik auf. In dem vollzogenen Experiment kommen weitere rauschhaft anmutende Komponente hinzu, die sich durch den Leser nur schwer in Realität und Phantastik einteilen lassen. Denn Ferdinand beginnt Musik zu hören, die wie “[...] in einer fernen Gasse [...]” zu klingen scheinen, doch schließlich durch das Experiment hervorgerufen wurden. Damit erhält die Stadt phantastische Elemente, die sich vollkommen dem eingangs praktizierten Realismus entziehen und die Stadt als Hintergrund der Handlung verzaubern. Es ist nicht das Ziel diese Chiffren von denen THALMANN spricht aufzulösen. Sie stehen vielmehr als Symbole eines größeren Zusammenhangs des Verhältnisses des Menschen zur Stadt. Die Komponente der verwirrenden, unüberschaubaren, überraschenden Stadt, erfährt in diesem Text eine besondere Ausformung.
Um auf die bereits erwähnten Kategorien der Wahrnehmung nach HÅRD und STIPPAK zurückzukommen, ließen sich hier vor allem eine nervöse und überwältigende Stadt nachweisen. Selbstverständlich finden sich in der Romantik nur Anklänge dieser für die Moderne fixierten Kategorien nachweisen, doch dies zeigt, dass die Assoziationen, die mit dem Thema Stadt einhergehen, bereits in frühen Texten der städtisch geprägten Literatur der Romantik auftauchen. Das schnelllebige, hektische und unüberschaubare Treiben in den Wirren der Stadt wird sich seit dem Aufgreifen in diesen frühen Texten noch großer Beliebtheit in der Literatur erfreuen. Tendenzen wie die zunehmende Anonymisierung und die Verlustängste der eigenen Identität, die sich im Gewirr der Massen zu verlieren scheint, werden hier dennoch noch nicht thematisiert. Allerdings liefert der Text eine Grundlage einer solchen Wahrnehmung der späteren Großstädte.
Das Bild der Stadt in der Pokal ist ein ambivalentes. Jedoch ohne, dass hier genaue Wertungen vorgenommen werden. Das heißt die Stadt präsentiert sich hier als etwas Neues, etwas Faszinierendes, ohne dass Ängste oder Befürwortungen dieser Entwicklungen laut werden. Ferdinand wirkt wie ein Wesen, das sich passiv diesen Eindrücken hingibt.
Nach der Begegnung im Hinterzimmer des Hauses eilt er auf die Straße um seine Geliebte zu finden und den Erlebnissen, die er durch die Weissagungen des Alten auf den Grund zu gehen. Es heißt an dieser Stelle: „Bald saß, bald wanderte er liebetrunken im Walde […]“ (S.241). Bei diesem Herumirren Ferdinands bleibt unklar ob der Wald hier, wie bereits erfolgt als Metapher für das Gewimmel der Stadt fungiert oder er wiederrum zum Kontrastmittel seiner Zerstreuung durch die Erlebnisse im besagten Haus wird. Auffallend ist jedoch, dass die Stadt oftmals in Zusammenhang mit dem Land oder dem Wald gebracht wird, wodurch sich die Annahme vom Gegensatzpaar zur Kontrastierung durchaus als bewahrheitet ansehen lässt.
Ferdinand muss anerkennen, dass sein unendliches Bestreben nach der Findung der Wahrheit über seine Liebe zu ihr und die Geheimnisse der Stadt ihn ins Unglück zu stürzen scheint. Es ist als blieben ihm die Geheimnisse, die dieser Ort offenbarte verwehrt und der Versuch ihrer Offenlegung führe zu einem bitteren Ende.
Denn die Wirren der Stadt entfernen Ferdinand von seiner Geliebten, sodass sie in Unwissenheit um das Schicksal Ferdinands ein neues Leben beginnt, an dem er keinen Anteil mehr hat. Der Rhythmus des Kommens und Gehens, der zum Anfang der Erzählung seinen Auftakt nahm, beendet schließlich auch das Verhältnis zwischen Ferdinand und seiner Geliebten. Damit sind beide Figuren einem Geheimnis der Stadt unterworfen, dass sie für sie als das Verlieren und Finden von Menschen offenbart. So ist Ferdinand am Ende der Erzählung gezwungen vergangenen Erinnerungen nachzuhängen, in denen eine Zweisamkeit der beiden Figuren zumindest möglich erschien. „Die Stadt zeigt ihr Bitterstes: sie verbindet und trennt.“
Im Stadtmärchen der Romantik geht es nicht um gewöhnliche Begebenheiten, die in Grenzen gehalten werden. Es entfaltet sich ein Labyrinth des Phantastischen, der Wege und Irrwege wenn Ferdinand in die Hinterzimmer der verwinkeltsten Gassen geleitet wird. Somit stellt sich die Stadt hier als Ort einer Täuschung dar, weil sie augenscheinlich ein Trugbild liefert, dass nur von der Entdeckung, das Eindringen in den Irrgarten erkennbar wird. Die Erlebnisse, die Ferdinand in diesen unbekannten, die menschliche Vorstellungskraft übersteigenden Räumen wahrnimmt, wirken gleich einer Ekstase, sowohl auf die Figur der Handlung wie auch auf den Leser. Damit erhält auch der Handlungsort der Stadt einen Charakter des Grotesken. Die Dinge werden dabei jedoch weder als gut noch als böse charakterisiert. Erst der Mensch selbst, sei es die Figur der Handlung oder der Leser setzt sie ins Verhältnis zur Welt und schafft sich seine eigene Vorstellung der Stadt als Raum des Unmöglichen und Phantastischen. Der Weg führt in diesem Text vom Domplatz beginnend, vom scheinbar Verstehbaren ins ständig Unerwartete. Gleichermaßen scheint die Hauptfigur vom Treiben der Stadt angezogen und fasziniert zu sein. Denn es ist er selbst, der den Weg ins Ungewisse ins Wunderbare und Geheimnisvolle sucht. Das Bild der Stadt was der Text entwirft ist somit ein eindeutig ambivalentes, dass durch die verwirrenden Bilder Faszination wie auch Schrecken ausübt. Der Schrecken deutet sich dennoch nur an, denn von einer Dämonisierung oder einem Schreckensbild dieses Irrgartens kann im vorliegenden Text nicht gesprochen werden.
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Nach den Kriterien der Motivbildung, die zu Beginn der Arbeit aufgegriffen werden, kann hier von einer Durchdringung des Werkes durch das Stadtmotiv gesprochen werden. Die Stadt nimmt hier zwar eine wichtige Rolle ein, wird aber dennoch nicht ausdrücklich zum bestimmenden Moment der Handlung. Das heißt sie bildet vielmehr den Hintergrund der Liebesgeschichte um Ferdinand und das unbekannte Mädchen, um dafür hinreichende Bedingungen zu liefern um eine Handlung in Gang zu setzen. Die Stadt ordnet sich hiermit als untergeordnetes Motiv ein, dass zwar die Handlung entscheidend beeinflusst, jedoch ohne den Hauptcharakter des Textes auszumachen. Hiermit liegt eine Zuordnung zum Nebenmotiv nahe. Zieht man weiterhin die Kriterien der vertikalen und horizontalen Motive heran lässt sich feststellen, dass das Stadtmotiv hier größtenteils neben anderen Motiven wie der Religion, Liebe und anderen nebengeordnet ist. Das heißt es ist zu großen Teilen von einer vertikalen Ausrichtung auszugehen. Da das Motiv bisweilen auch an einigen Stellen des Textes verschwindet oder zurücktritt.
Folgt man den Ausführungen nach KLOTZ kann vom vorliegenden Text durchaus von einem durch die Stadtthematik geprägten gesprochen werden. Jedoch meint KLOTZ in diesem Zusammenhang vor allem einen von der Stadt geprägten Stil, der sich hier kaum nachweisen lässt, da hierfür auch eine größere Rolle des Motivs im Text von Nöten wäre.
Die Kriterien, die THALMANN lieferte wie den Hang zur Phantastik, den Manierismus zur Stadt ließen sich allesamt im Text wiederfinden. Fraglich ist allerdings inwiefern das Kriterium der Allegorie bedient wird, denn dafür fehlt schlichtweg die explizite Rede von der Stadt und die differenzierte Charakterisierung des Handlungsortes durch Figuren oder den Erzähler.
Dennoch tritt der Handlungsort an wenigen Stellen im Text in metaphorischer Rede in Erscheinung. Gerade wenn hier von einem dichten Wald die Rede ist. Das Wahrnehmungsmuster der Großstadt, wie es SCHERPE später definiert, wird demnach durch vorhandene (Natur-)Symbolik vollzogen, wodurch gewissermaßen ein Vergleich auf bestehenden Strukturen stattfindet. Eine mythische Aufladung wird durch die Abbildung von unerklärbaren und geheimnisvollen Zusammenhängen erreicht, die sich in den unbekannten Gesetzmäßigkeiten der entstehenden Verbindung durch die Begegnung zwischen Ferdinand und seiner Geliebten abzeichnet. Von einer durchgehenden metaphorischen Metarede kann jedoch nicht gesprochen werden, da hierzu schlichtweg die Stadt als bloßer Handlungsraum zu weit in den Hintergrund gedrängt wird. Doch eine einfache Tendenz zur metaphorischen Rede und damit der Reduktion von Komplexität lässt sich hier in Ansätzen wiederfinden. Es klingen hiermit Bestrebungen an, die Stadt anhand bekannter Merkmale durch naturalisierende Symbolisierungen zu charakterisieren.
Eine räumliche Zergliederung, die ebenso einer Reduktion von Komplexität folgt, lässt sich ebenso im Text wiederfinden. Die Hauptfigur Ferdinand reist zunächst in die Stadt, trifft auf seine Geliebte und dringt hierdurch immer Tiefer in den Raum ein, der dadurch ebenso in seine Teilaspekte wie Straße, Gasse, Haus, Raum zergliedert wird.
Eine Wertung wie sie HÅRD/STIPPAK darlegen (die monotone, nervöse, überwältigende Stadt), wird im Text in direkter Form nicht vorgenommen. Auch wenn ein Erzähler von außen das Geschehen kommentiert, so nimmt er hierhingehend keine Wertung vor. Eine Wertung dieser Art wird höchstens durch den Leser selbst vorgenommen. Als Mittelpunkt der Handlung sehen HÅRD/STIPPAK in der überwältigenden Stadt die Ambivalenz, die sich hier aber durchaus durch den Verlauf des Schicksals der Hauptfigur abzeichnet. Was zunächst wie eine glückliche Liebesgeschichte aussieht, kippt nach und nach in eine Richtung, die zumindest für die Hauptfigur eine Art abschließende Katastrophe markier, auch wenn hier der tragische Ausgang fehlen mag. Die Ambivalenz drückt sich aber für HÅRD/ STIPPAK vor allem in dem Nebeneinander verschiedener sozialer Gruppen und Wertvorstellungen aus, die in einen Kontrastverhältnis zueinander stehen. Ein solcher Kontrast wird zwar durch den sozialen Stand von Ferdinand und der Geliebten angedeutet, stellt aber hier kein spezifisches Faktum städtischen Lebens dar.
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4.2 E.T.A. Hofmanns Des Vetters Eckfenster
Eine Person, durch den Ich-Erzähler verkörpert, besucht seinen kranken Vetter in Berlin. Dieser ist aufgrund einer Krankheit, die es ihm verwehrt einen Fuß vor die Tür zu setzen, darauf angewiesen, die nötigen Anregungen zu seiner schriftstellerischen Tätigkeit durch das Fenster seiner Wohnung am Marktplatz zu erlangen. Dabei entsteht eine Reihe von Erzählungen, die durch die Mutmaßungen beider Personen über das Treiben auf dem Marktplatz angestellt werden.
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Der Ort der Handlung in Hoffmanns Erzählung ist die Großstadt Berlin. In einer Wohnung am Gendarmenmarkt, ist eine der Hauptpersonen um den Erzähler, der Vetter gezwungen, sich neuer Gedanken und Eindrücke zu bedienen, da ihm die schriftstellerische Tätigkeit infolge einer Krankheit versagt bleibt, da es ihm nicht möglich ist, das Haus zu verlassen. Offenbar versiegte der Quell, aus dem der Vetter bisher seine Poesie genährt hat. Schon zu Beginn des Textes wird darauf verwiesen welch glückliche Entdeckung der Vetter an seinem Eckfenster während seiner Krankheit gemacht hat. Die Entdeckung des Eckfensters als Tor zu einer Welt, die ihm durch seine Krankheit versperrt ist, weckt die „[…] wiedergekehrte Hoffnung, auf neuerweckte Lebenskraft.“ (S.5). Durch den Erzähler wird auch sogleich angedeutet, dass der Vetter sich gewissermaßen einer Technik gewidmet hat, die seine Phantasie trotz seiner Krankheit neu zu entfachen. Seine „[…] Phantasie fliegt empor und baut sich ein hohes, lustiges Gewölbe, bis in den blau glänzenden Himmel hinein.“ (S.4). Das große Eckfenster des Vetters ermöglicht ihm „[einen] Blick[, der] das ganze Panorama des grandiosen Platzes.“ (S.5) umspannt. Der Vetter entdeckt in dem „[…] niemals rastenden Treiben.“ (S.6), eine Art neue Anregung der Phantasie und lädt auch seinen Freund dazu ein, sich selbst von der Unendlichkeit der Eindrücke und Anregungen zu überzeugen. Auch dieser bemerkt wie „[…] seltsam und überraschend […]“ (S.6) auf ihn dieser Anblick wirkt. Denn „Der ganze Markt schien eine einzige, dicht zusammengedrängte Volksmasse, so daß man glauben mußte, ein dazwischengeworfener Apfel könne niemals zur Erde gelangen.“ (S.6). Den Eindruck den beide Figuren gewinnen scheint einer flüchtigen Impression nahezukommen. RIHA spricht in diesem Zusammenhang vom Motiv des leeren Tumults. Der Erzähler vergleicht das Treiben des Marktes mit einem „[…]vom Winde bewegten, hin und her wogenden Tulpenbeets […]“ (S.6). Mit dieser Charakterisierung erhält der Marktplatz eine Komponente des Natürlichen. Denn wie ein Phänomen der Natur, wälzen sich die Menschenmengen über einen Platz, das hier mit der Schönheit der Natur in Zusammenhang gebracht wird. Es entsteht hier ein harmonisches und positives Bild, dessen Unüberschaubarkeit durch den Vergleich mit Bildern der Natur kompensiert wird. Ebenso bemerkt jedoch der Erzähler, dass ein längerer Anblick wohl einem rauschhaften Erlebnis nahekommt indem er es mit einem „[…] kleinen Schwindel […] oder einem „[…] nicht ungenehmen Delirium […]“ (S.7) vergleicht. Auffällig ist hier das nicht unangenehme Delirium, welches an sich doch paradox erscheinen mag, da sich ein Delirium der Kontrolle des Menschen entzieht und zumeist einer eher unangenehmes Erlebnis darstellt. Der Text entwirft hier ein Bild, das durch seinen Naturvergleich etwas Harmonisches erhält und zugleich eine befremdende Komponente durch die Beschreibung eines Deliriums, das sich aber ausdrücklich angenehm auf den Sehenden auswirkt.
Doch während dem Erzähler dieser Anblick seltsam anzumuten scheint, weist der Vetter ihn darauf hin differenzierter hinzusehen. Er fordert von ihm „[…] nämlich ein Auge, welches wirklich schaut.“ (S.7). Er fordert damit ein poetisches Prinzip, dass zwar von der Phantastik dominiert wird, aber gleichzeitig an der Materie, der Wirklichkeit festhält. Die Technik des Vetters stellt dabei eine Art sprachliche Fixierung der dynamischen Vorgänge auf dem Marktplatz wenn er beispielsweise einen gelben Punkt in der Masse ausmacht, der brennend die Masse durchschneidet. Das Ziel dieser Beobachtungen nennt der Vetter selbst: Er „[…] entwickelt sich daraus die mannigfachste Szenerie des bürgerlichen Lebens.“ Woraus der Vetter „[…] eine Skizze nach der anderen […]“ (S.7) anfertigt. Diese Skizzen arbeiten aus Auffälligkeiten und Skurrilitäten des Marktalltags prototypische Menschen heraus, die in ihrer Summe stellvertretend für die Stadt wirken. Das heißt ein Bild der Stadt Berlin wird hier maßgeblich über die Beschreibung von Tätigkeiten erschafft. Um diese Einzelfiguren konstruiert der Vetter Geschichten und Schicksale, zu denen er sich gewissermaßen durch die Physiognomie und das Tun anleiten lässt. Da es sich nicht um die tatsächlichen Schicksale der Personen handelt, kann man hier von einem phantastischen Realismus sprechen. Er arbeitet dabei eine Reihe von Figuren heraus wie die rabiate Hausfrau, Stiefelknechtverkäufer, Studenten und andere Gestalten des täglichen Treibens auf dem Markt. Auf die einzelnen Ausführungen des Vetters muss hier nicht weiter eingegangen werden.
Es kann aber hier kaum von einer Stadtdarstellung in direktem Sinne gesprochen werden, es erfolgt vielmehr eine Skizzierung über das menschliche Handeln. Dennoch nimmt die Stadt nicht nur die Rolle des Handlungsortes ein. Auch wenn im eigentlichen Sinne von keiner Handlung gesprochen werden kann, da diese nur über eine Rede über die Personen auf einer Metaebene erfolgt. Die Stadt fungiert hier als Grundlage aller Vorstellungen des Vetters und ist gewissermaßen auch zum Helden der Erzählung geworden.
Und obwohl es sich um Imaginationen des Vetters handelt versuchen die Ausführungen des Vetters war wahr zu sein. Und auch der Erzähler muss anerkennend anmerken: „Von allem was du herauskombinierst, lieber Vetter, mag kein Wörtchen wahr sein, aber […] Dank deiner lebendigen Darstellung, alles so plausibel, daß ich daran glauben muß, ich mag wollen oder nicht.“ (S.11).
Diesen Eindruck gewinnt der Erzähler wohl auch dadurch, dass die „herauskombinierten“ Geschichten allesamt ad hoc entstehen, also mündlich improvisiert werden. Die Poetik dieses Erzählens wird zur Imaginationslehre zu der der Vetter den Erzähler anleitet. Durch das Fenster, durch welche beide Personen blicken entsteht ein Prinzip der Rahmenschau, wie es aus dem Theater bekannt ist. Denn durch diesen Guckkasten blicken die Personen, die selbst keiner Handlung angehören und sie können auf das äußere Geschehen keinen Einfluss nehmen. Auch der Wetter selbst erwähnt den Marktplatz als „[…] Theaterwand […]“ (S.11). Die Haltung der Figuren in der Erzählung ist daher als statisch anzusehen. Der Vetter schafft jedoch mittels der beschriebenen Lebensläufe im Gewirr der Menschen ein Ordnungsystem, das nur scheinbar von Willkür bestimmt wird. Schauen bedeutet damit „[…] die Welt mit einem dichten, changierenden Gewebe der Phantasie [zu] überziehen.“
Eine weitere kleine Besondernheit liefert der Text, als der Vetter von einem Mädchen berichtet, dass sich gewissermaßen dem Markttreiben entzieht, weil sie damit beschäftigt ist ein Buch, von dem der Vetter selbst der Autor ist, zu lesen. Diese Textstelle ist damit der einzige Bezug, den die Figuren der „Theaterwand“ auf den Vetter selbst nehmen. Zum Ende des Textes scheint sich eine heterodiegetische Erzählinstanz einzuschalten, die an keine der Personen gebunden ist. Sie liefert abschließend einen Überblick über die Geschehnisse am Markt: „Immer mehr hatte sich das Gedränge vermindert; immer leerer und leerer war der Markt worden.“ (S.37.)
Abschließend liefert der Vetter selbst das Resumee, welches das Ziel der Analyse war: „Dieser Markt […] ist auch jetzt ein treues Abbild des ewig wechselnden Lebens. Rege Tätigkeit, das Bedürfnis des Augenblicks trieb die Menschenmasse zusammen; in wenigen Augenblicken ist alles verödet, die Stimmen, welche im wirren Getöse durcheinanderströmten, sind verklungen, und jede verlassene Stelle spricht das schauerliche: ´Es war´ nur zu lebhaft aus.“ (S.37). Diese abschließende Aussage steht damit programmatisch für den Entwurf des Stadtbildes im Text. Die Stadt manifestiert sich am Transitorischen, im Vorübergehenden und Vergänglichen Treiben und Handeln der Menschen. Solche Vorgänge resultieren aus dem gemeinsamen Agieren der Masse und fügen die scheinbare Willkürlichkeit des „wogenden Tulpenbeets“ zu einem Bild zusammen.
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Der vorliegende Text von Hoffmann scheint in viel größerem Maße von dem Phänomen der Stadt durchdrungen als vergleichsweise ältere Texte von ihm. Gleiches gilt im Vergleich mit dem Stadtmärchen von Tieck. Die Stadt kann hier als ein Hauptfaktor gelten, der sowohl den Vetter als auch Hoffmann selbst zu neuen Anregungen geführt hat. Denn es handelt sich beim Text Des Vetters Eckfenster um ein sehr spätes Werk, dass der Dichter zum Ende seiner Schaffenszeit verfasst hat. Es liegt hiermit die Vermutung nahe, dass sich die Zeit in der dieser Text verfasst wurde in einem Prozess der Veränderung befunden hat. In einer Akzentverschiebung. THALMANN führ hierzu auf: „Sie kommen aus dem Unbehagen an der Wald- und Wiesenlandschaft, die sie selbst nicht mehr unmittelbar zu erfassen vermögen.“ Darin klingt an, dass die Romantiker zunehmend Zeugen einer Veränderung ihrer Lebensumstände waren und nunmehr auch bereit waren, diese in literarischer Form abzubilden. Denn die Welt hat ihr Spektrum um einen wesentlichen Faktor erweitert. Ebenso lässt sich im Text eine Veränderung der Wahrnehmung ausmachen. Denn es sind die Menschen selbst, die ihr eigenes Handel und Bestreben im Zusammenleben in der Stadt nicht mehr einheitlich beschreiben können. Es zeichnet schon hier eine Vielspurigkeit des Lebens ab, die damit die Voraussetzung für Denkansätze der Moderne liefert. Stellvertretend hierfür stehen im Text Hoffmanns die zahlreichen Figuren und Menschenschicksale, die er versucht zu skizzieren. Angelehnt an die Ausführungen SCHERPEs lässt sich eine Reizüberflutung ausmachen. Doch der Autor entwickelt einen eigenen Weg dieser nachzukommen, ohne sie in einer entladenden metaphorischen Rede aufzulösen.
Und es wird deutlich, dass es sowohl der Figur des Vetters, wie auch Hoffmann selbst möglich ist ein geeignetes Ordnungssystem zu erschaffen, das in der Lage ist, alle Eindrücke nahegehend konsistent zu erfassen. Dennoch scheint den Figuren selbst diese Überflutung durch die Eindrücke gewahr zu werden. Das mag auch der Grund sein, weshalb das Treiben des Marktplatzes im Text selbst als „wogendes Tulpenbeet“ in Erscheinung tritt.
Der Vetter ist ganz und gar ein Städter. Er lebt im Straßengefüge und hat auch keinen Bezug zum Landleben, was einen Vergleich möglich machen würde. Für ihn ist das Gedränge des Marktplatzes zum täglichen Erfahrungsort geworden mit allen Düften, Farben und Gestalten, die dazu gehören. Dieser Raum kann nur mehr flüchtig und fragmentarisch erlebt werden. Hoffmann begegnet diesen Umständen mit einer Ausdrucksweise, indem er die in jedem Abbild dieser zahlreichen Realitäten, die durch die einzelnen Figuren verkörpert werden, eine Vielzahl weiterer möglicher Wirklichkeiten aufzeigt. Dabei handelt es sich um Wirklichkeiten, die sich sonst ihrer Erkenntnis entzogen haben und zu bloßen Masken geworden sind, die man zwar betrachten, aber dennoch nicht ergründen kann. Dieser Umstand wird durch den Besuch des Vetters verdeutlicht, denn für ihn war das Treiben des Marktes, nichts weiter als ein sinnverwirrendes Gedränge, in dem der Einzelne nichts zu erkennen glaubt. Damit schließt die Wahrnehmung durch den Besucher des Vetters an die Ausführungen HÅRD/ STIPPAKs an, die in der Stadtdarstellung der modernen Literatur konventionalisierte Wahrnehmungsmuster wiedererkennen. Denn auch hier lässt sich das Charakteristikum der „nervösen Stadt“ nachweisen. Das Motiv der hektischen und belebten Straße der Großstadt wird dadurch markiert. Die Überwältigung durch die Eindrücke wird allerdings nur durch den Besucher markiert, der zum Anfang der Erzählung schlichtweg überfordert scheint, sich aber dem Ordnungssystem des Vetters bemächtigt um der Lage Herr zu werden.
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4.3 Stadtwahrnehmung in der Romantik
In diesem Abschnitt soll nach abgeschlossener Analyse der beiden Texte eine Zusammenfassung erfolgen, die sowohl einen Vergleich als auch einen Zusammenhang der beiden Texte vorsieht.
THALMANN spricht in ihren Untersuchungen von einem Geist der Großstadt, der sich in den Texten der Romantik manifestiert. Diese Anklänge konnten in beiden Texten nachgewiesen werden.
Die Stadt ist zum neuen Erfahrungsraum geworden, der damit auch das Bewusstsein der Literatur für dieses Thema geschärft hat. Die Romantik geht dabei den Weg der Bewusstseinserweiterung, indem sie die Stadt zur Differenzierung von Wahrheit heranzieht. Denn es stellt sich in beiden Werken unterschwellig die Frage: Was ist wirklich? Dieser Frage gehen beide Texte auf verschiedene Art und Weise nach. Während im Pokal die realistische Erfahrungswelt um eindeutig phantastische Elemente erweitert wird, um aufzuzeigen welche neuen Welten sich durch den neuen Erfahrungsraum eröffnen, geht der Text Des Vetters Eckfenster einen anderen Weg zur Beantwortung dieser Frage. Hier findet eine Phantastik in der Stadt ihren Raum, die auf einem Realismus begründet ist. Das heißt obwohl es sich bei den Ausführungen des Vetters um erdachte Phantasien handelt, werden sie auf einer Basis des Realen begründet. Dadurch erlangen sie den Charakter des Möglichen und Wahrscheinlichen, der sich auf der Phantastik gründet, aber dennoch fraglos als real erachtet werden kann. Beide Texte deuten damit auf abstrakter Ebene neue Zusammenhänge an. Die vor der Romantik gängigen Einstellungen und Lebenshaltungen werden hier statisch ausgewiesen. Die Stadt dient als Erweiterung der Einförmigkeit des Landlebens wie THALMANN erwähnt. Damit werden die vergleichsweise naiven Horizonte im urbanen Lebensraum fragwürdig, da selbst die Grenzen zwischen Phantastik und Realismus kaum auszumachen sind, besonders im Text Des Vetters Eckfenster. Als naiv können sie aus dem Grund gelten, dass sie von den urbanisierten Menschen als überholt eingestuft werden. Denn auch Ferdinand in der Pokal ist eindeutig bestrebt sich seinem früheren Leben auf dem Land zu entheben, zugunsten einer ihm ungewissen Zukunft. Die Frage nach der Wahrheit ergibt sich aus dem Widerspruch dieser beiden Welten. Denn Ferdinand entzieht sich bewusst seinem Lebensraum, der wie bereits angedeutet von den Menschen mit Freiheit, Gesundheit und Natürlichkeit assoziiert wird. Damit wird das Umsiedeln in die Stadt zu einem Bestreben, die Wahrheit zu finden, mitten in einem Gewirr aus unverständlichen Zusammenhängen, die sich dem Fassungsvermögen der menschlichen Wahrnehmung zu entziehen scheinen. Deshalb geht hier Tieck auch den Weg der phantastischen Beschreibung der Stadt, da sie sich als ungreifbar herausstellt.
Denn der Versuch die Wahrheit zu entdecken, sei es im Pokal eines Alchemisten oder durch die Offenlegung der wahren Begebenheiten des Marktes den der Vetter überblickt führt den Leser zwar scheinbar an die Wahrheit heran, endet jedoch in einer nur noch undurchschaubareren Suche. Fiktion und Täuschung werden in beiden Texten zum Grundelement des Erlebens der Großstadt. Denn weder Ferdinand noch der Vetter sind in der Lage zu erkennen was Wahrheit in diesem Zusammenhang ist und wie sie sich ergründen lässt. So steht in beiden Werken in Zusammenhang mit der Stadterfahrung die Frage, die THALMANN für die gesamte Stadtliteratur der Romantik formuliert: „Was liegt hinter der Enge der Umrisse und der Helligkeit des Erkennens?“ Denn offenbar genügt es nicht zu sehen, ohne zu erkennen. Diese Erkenntnis gewinnen beide Hauptfiguren der Erzählungen, wenn auch indirekt.
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5. Urbanisierung in der Moderne
Die Großstadt zu Beginn der Moderne kann als eine der wichtigsten Triebfedern der Künste angesehen werden. Vor allem der allgemeine Vorgang der Industrialisierung führte dazu, dass Menschen in Massen in die Ballungszentren getrieben wurden, da hier vor allem Arbeit auf sie wartete, und damit verbunden, die Hoffnung auf einen wachsenden Lebensstandard. Die größeren Städte, die bereits in der Romantik stetig anwuchsen waren zu gewaltigen Metropolen herangewachsen, deren Einwohnerzahlen weit über die Grenze von einer Million hinausreichten. Durch die gewaltigen demographischen Entwicklungen, die sich in der Urbanisierung widerspiegelten, erlangte der städtische Raum auch für die Künste immer höheres Interesse. Der literarische Niederschlag von Themen rund um die Großstadt wuchs um ein Beträchtliches an. So schreibt DOGRAMACI zusammenfassend: „Entscheidende künstlerische Innovationen fanden in den Metropolen statt, auch die Wahrnehmung von Großstadt war bedeutend für die Entstehung von künstlerischen Strömungen und die Arbeit von Künstlern.“ Und auch THALMANN schließt in ihren Untersuchungen zum literarischen Stadtbewusstsein der Romantik mit der Aussage: „Die Stille der Begrenztheit durch Naturverbundenheit hat aufgehört.“
Dies bedeutet abschließend gesagt, was zuvor ein Lebensraum des Außergewöhnlichen war, möglicherweise im 18. Jahrhundert nur das Ziel einer Reise oder der Erwerbstätigkeit, war für einen Großteil der Menschen zum natürlichen Lebensraum geworden.
Mit wachsender Relevanz dieses erschlossenen Lebensraumes wuchsen ebenso die verschiedenen Wahrnehmungen des großstädtischen Raumes, die nicht bloß ein Konstrukt von literarischen Ambitionen darstellen. Denn der Charakter einer Großstadt wird von jedem seiner Individuen wahrgenommen, wenn auch in verschiedener Weise. So bietet sich mit dem beginnenden 20. Jahrhundert eine sehr große Zahl an verschiedenen Meinungen und Ansichten, was wiederrum auch zu einer Stilpluralität in der Kunst führte und einem der Grundzüge der Moderne entspricht.
Ein sehr wichtiger Charakter moderner Großstädte ist dabei die Unbeständigkeit des Lebens. Denn eine Großstadt ist gezwungen sich beständig weiterzuentwickeln, sie ist gewissermaßen einer ständigen Dynamik und Entwicklung unterworfen. Die Stadt Berlin ist im deutschen Raum zu dem Ort der Moderne geworden. Dies bestätigt sich auch darin, dass ein Großteil aller Künstler in die Metropole strebten, um am kulturschaffenden Prozess teilzuhaben. Diese Anziehung führte damit zu einem Durchbruch der kulturellen Großstadtmoderne.
Doch mit der ständigen Dynamik wuchs auch der Kampf derselben Herr zu werden, oder zumindest sich Techniken zu bemächtigen, diese adäquat literarisch abzubilden. Das Motiv der Großstadt hat in der Moderne besonderen Ausdruck erfahren und ist in viele Richtungen differenziert worden, sodass letztendlich in der Moderne eindeutig von einer großflächigen Durchdringung der Künste durch das Motiv gesprochen werden kann. Doch auch wenn die Großstadt als Raum des Neuen und des Trasitorischen verstanden wird, so fußt die Geschichte des Motivs als Zitat der romantischen Ansätze, die allerdings um ein vielfaches erweitert wurden.
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6. Naturalistische Theorien
Der Analyse des Textes Meister Timpe nach Max Kretzer sollen an dieser Stelle einige literaturtheoretische Ausführungen vorangestellt werden. Der Grund hierfür liegt vor allem auf dem deutlichen Verweis einer bestimmten Gattung durch den Autor selbst, indem er dem eigentlichen Buchtitel den Untertitel Sozialer Roman zuordnet. Diese Vorstellung einer Erzählung beinhaltet programmatische Grundideen, deren Darlegung bei der eigentlichen Text- und Motivanalyse von Bedeutung sind. Mit dem Verweis des Autors auf diese Untergattung der Erzählung scheint auf diese bestimmte Programmatik, die vor allem dem Naturalismus zu teil ist, verwiesen.
Thematisch fokussiert sich der Soziale Roman auf die Modernisierungssymptome, die das 19. Jahrhundert unter einem sozialpolitischen Schlagwort zusammenfasst. Es entsteht das Konzept der sozialen Frage. Dies umfasst vor allem die sozialpolitischen Entwicklungen, die durch die Industrialisierung nach 1870 in Gang gesetzt wurden.
Der Soziale Roman versteht sich im Sinne der Naturalisten als eine Abbildung von Gesetzmäßigkeiten, die gleichermaßen zu Not und Elend wie auch zu Luxus und Reichtum führen. Die Abbildung solcher Gesetzmäßigkeiten gehören zum Theorem und Selbstverständnis der naturalistischen Literatur.
Der Naturalismus ist der Auffassung, dass sich jede Erscheinung auf simpelste Gesetzmäßigkeiten zurückführen lässt. Es bleibt nur, diese Gesetzmäßigkeiten zu erkennen und darstellbar zu machen. Dabei sei eines der obersten Grundgesetze, das der Entwicklung. Damit stützt sich die naturalistische Strömung maßgeblich auf die wissenschaftlichen Theorien Darwins. Diese besagen, dass jedes Individuum von einer Entwicklung ergriffen wird und damit einer ständigen Dynamik der Umwälzung unterliegt, in der es sich, durch sich ständig verändernde Umstände, zu behaupten hat. Das heißt faktisch, ein Individuum oder Gegenstand, welcher sich dieser Dynamik verschließt, ist gezwungen auf kurz oder lang seiner Existenz beraubt zu werden. Diesem Verständnis von Entwicklungsdynamik wohnt ein gewisser Determinismus, ein Ausgeliefertsein inne. Es gilt das Gesetz des Stärkeren, der als stark gilt, wenn er bereit ist seinen Lebensraum ständig aufs Neue zu erkämpfen. Die Einschätzung dieser Bereitschaft muss allerdings keine durchweg positive sein. Das heißt eine Veränderung muss nicht immer im Sinne eines Fortschreitens interpretiert werden. Der Soziale Roman ist nun darum bemüht einen solchen Kampf darzustellen, sei es um die Dynamik der Veränderung zu legitimieren oder zu kritisieren.
Übertragen auf die Literatur erweist sich dieser Ansatz in diesem Text als besonders hilfreich. Denn der Soziale Roman ist darum bemüht die sozialen Gesetzmäßigkeiten dieses Darwinismus abzubilden. Diese orientieren sich an der äußeren Erscheinung des Gegenstandes.
Im speziellen Falle dieses Textes, manifestieren sich diese grundlegende Naturgesetze des Sozialen in den sozialen Umwälzungen der Urbanisierung und Modernisierung durch das Fortschreiten der Industrialisierung. Dieser Zusammenhang wird bereits an den Hauptakteuren des Textes deutlich. Hier strebt Kretzer eine Kontrastierung an, indem er zwei gegensätzliche Parteien, eine entstammt dem Arbeiter- eine andere dem Kreis der Industriellen, auftreten lässt. Ein Zusammenhang dieser angestrebten Darstellung des sozialen Kampfes auf dem Boden der Großstadt Berlin wird weiterhin aus den einzelnen Titeln der Kapitel im Text deutlich. Hier finden sich Bezeichnungen wie: „Der Kampf des Jahrhunderts“, „Verzweiflungskampf“, „Unter Trümmern“.
Durch den angesprochenen Determinismus, dem das Individuum nach Ansicht der Naturalisten unweigerlich unterworfen ist, gewinnt die Großstadt-Thematik besondere Relevanz. Denn sie kann, angesiedelt im Sozialen Roman, zum maßgeblichen Bestimmungsmoment des Individuums werden. Damit besäße das Motiv der Großstadt eine große handlungsauslösende Relevanz, die das Werk in einem hohen Maße durchdringt und beeinflusst.
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7. Analyse von Max Kretzers Meister Timpe
Der Roman Kretzers zeigt in naturalistischer Manier das Schicksal zweier Familien im Berlin der Gründerjahre. Zwei Parteien, durch verschiedene Familien verkörpert, wohnen Haus an Haus in einer Stadt und Zeit, die sich im Umbruch befindet. Die Familie Timpe stellt eine typische konservative Position dar. Sie ist dem Handwerk seit Generationen verpflichtet. Es leben drei Generationen: der Großvater, Vater und Sohn beieinander. Die Familie Urban, die Nachbarn der Timpes sind von anderem Schlag. Das Familienoberhaupt wächst während der Handlung zum größten Nutznießer der fortschreitenden Urbanisierung und Industrialisierung an, während die Familie Timpe nach und nach an der Entwicklung ihrer Zeit zu zerbrechen scheint. Der Sohn Timpes jedoch, entwächst seinem kleinbürgerlichen Handwerksmilieu und geht Hand in Hand mit der Familie der Urbans. Am Ende des Romans steht ein gebrochener Familienvater und Handwerker Meister Timpe, während sein Kontrahent Urban mit dem Sohn des Meisters von der aussichtslosen Lage des Vaters profitiert. Denn in den Jahren der Feindschaft hat sich eine stille Liaison zwischen dem Sohn der Timpes und der Stieftochter der Urbans angebahnt, die schließlich den völligen Bruch zwischen dem Sohn und seinem bisherigen Leben im Hause der Timpes markiert.
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7.2 Darstellung der Stadt
Das Milieu der Erzählung in dem die Handlung Kretzers angesiedelt wird, ist gleich zu Beginn des Textes auffällig markiert. Denn der Text beginnt mit den Worten: „Berlin schlief noch […]“ (S.5). Damit wird zum Einen der Handlungsort genau festgelegt und zum anderen eine Charakterisierung deutlich, die der Stadt Berlin eine menschliche Komponente verleiht, indem ihr in Form einer Personifikation menschliche Handlungen zugeschrieben werden. Es handelt sich hierbei, in Anbetracht von moderner Großstadtliteratur fast schon um eine klassische Vorgehensweise. Denn die Stadt Berlin verliert damit den statischen Charakter, den Städte in der Vergangenheit erweckten. Sie wird damit zu einem Individuum, das ebenso Teil der Handlung ist, wie die Figuren die sich in der Stadt selbst bewegen. Auch eine ambivalente Haltung gegenüber der Stadt Berlin wird zugleich in den ersten Sätzen des Textes deutlich wenn Kretzer die Stadt in ihrer Unwissenheit schlafen lässt, ungeachtet der „[…] zermalmenden Schläge des Schicksals […]“, die die Figuren zu erwarten drohen. Weiterhin geht Kretzer auch ganz klar den Weg einer Dämonisierung der Stadt, indem sie als Ungeheuer dargestellt wird. „[…] [D]er tausendköpfige Koloß [stieß] seinen Atem aus, […] [von] gewaltigen Feuergraben begleitet, […] geschwärzten Schloten; wie der GIgantenlunge eines Ungeheuers entstoßen. Strömte [der] graublaue[] Äther zu [einer] Dunstwolke, die den Horizont noch verschleierte.“ (S.5). Die Attribute, die an dieser Stelle der Stadt zugeschrieben werden, sind eindeutig negativer Natur. Ebenso entstammen sie einer Symbolik, die auf Bildern beruht, die vergleichbar mit der Vorstellung von Himmel und Hölle sind. Die verwendeten Metaphern zeichnen damit ein Bild, das sich sehr bekannten Darstellungen von einer Hölle auf Erden zu bedienen scheint. Damit verweist der Text fast schon stereotypisch auf Stadtbilder, die in der Lage sind das Menschenschicksal zerstörend beeinflussen. Es sei hier auf das Bild der Stadt Babylon verwiesen, dass bereits in der Bibel entstand.
Durch diese Szenerie des „Zwielicht[s]“ (S.6) taumelt Franz, der jüngste Angehörige der Timpes. Dieses Zwielicht ist dabei ebenso Ausdruck einer ambivalenten Haltung, wobei hier zu Beginn des Textes von einer Durchweg negativen Charakterisierung die Rede ist. Ebenso nimmt die Stadt Berlin hier den Charakter einer Figur an, da sie gewissermaßen in einem Verwandschaftsverhältnis zu Franz gesehen wird, das einem Vater oder Großvater gleichkommt. Denn sie beobachtete wie er in „[…] seiner Kindheit […]“ in „[…] diesem Stadtviertel geboren […]“ und „zum Knaben und zum Jüngling gereift.“ (S.6) war. Franz ist der Einzige der Timpes, dem diese Stadt jedoch nicht als Ungeheuer entgegentritt auch wenn ihm „[…] in seiner Phantasie […] die Häuser schief […]“ (S.6) erscheinen. Die Stadt Berlin wird für ihn zum Projektionsraum seiner Wünsche und Vorstellungen, die er in Zukunft zu verwirklichen sucht. Denn er träumt durchweg davon „[…] seine soziale Stellung nach Kräften auszubessern.“ (S.9). Ebenso ist von seinem Chef die Rede, der den auffallend sprechenden Namen „Urban“ (S.6) besitzt. In diesem Namen kulminiert die Vorstellung des Autors einer Großstadt, die im Wachstum begriffen ist und sich ständig zu verändern scheint, ungeachtet der Menschenschicksale, welche sie in negativer Weise zu beeinflussen scheint. Das Familienoberhaupt des Ferdinand Friedrich Urban wird im Verlauf der Handlung immer mehr zum Sinnbild des Ungeheuers, welches der Text zu Beginn andeutet. Der Text arbeitet in seiner Charakterisierung des Handlungsortes und der Personen mit sehr geläufigen Bildern, wie das des Ungeheuers andeutet. Das Haus der Timpes erhält bereits früh, in Andeutung an zukünftige Ereignisse, das Attribut eines „[…] steinernen […] Keils […]“ (S.13), der das Fortentwickeln der Stadt, auch der Familie Urban seiner Nachbarn, zu verhindern scheint.
Der Meister Timpe selbst scheint die Entwicklungen um ihn herum zunächst mit Fassung zu tragen, die er jedoch ebenso wie sein Vater bereits zu Beginn, mit der Zeit zu verlieren scheint. Der Großvater Timpe sagt schlichtweg, „[…] daß die Welt mit der Zeit eine andere geworden ist. Das verstehen wir beide nicht mehr.“ (S.19). Ein Kontrollverlust zeichnet sich hingegen für den Meister in verschiedener Weise ab. Einmal durch das Bestreben seines Nachbarn eine Fabrik neben sein beschauliches Haus zu bauen, andererseits durch den Verlust des Sohnes an die Entwicklungen der Zeit. Als er von den Plänen des Nachbarn erfährt sieht er bereits im „[…] Geist […] das Zischen des Dampfes, das Schnurren und das Summen der Treibriemen – jenes eigentümliche, die Erde erzittern machende Geräusch, das die Nähe großer, in Bewegung gesetzter Maschinen verkündet.“ (S.27). Für den Meister wird die Urbanisierung erst im Verlauf der Handlung als immer negativer Wahrgenommen. Der Fortschritt des Städtebaus wird Timpe vor allem durch die Industrialisierung deutlich, die sich im Bau von Fabriken und in der Revolution seines Handwerks manifestiert. Denn das ökonomische Prinzip des Stärkeren am Markt findet hier vollends seinen Ausdruck. Nach und nach wird der alte Meister vom Fortschritt in seinem Fachgebiet verdrängt. Womit auch er zu dem Resultat gelangt: „Die Schornsteine müssen gestürzt werden, denn sie verpesten die Luft[.]“ (S.29). Doch es wird klar dass es hierbei nicht nur um die Verpestung der Luft im primären Sinn geht, sondern auch um die Verpestung des bisherigen Lebensraumes durch den Fortschritt der Mechanisierung seines Handwerks. Dabei scheint es umso paradoxer, dass der Meister selbst sich auch in dem Erkennen der Prinzipen seines Lebens, desto bestimmter gegen den Fortschritt zu wehren scheint. „Ein Kaufmann muß rechnen, sonst geht er zugrunde […]“ (S.30). Dieses Urteil fällt der Meister selbst und erkennt damit ebenso die Gesetze ökonomischer Prinzipien an, die ihn letztendlich selbst zugrunde richten. Andere Handwerksgesellen sehen dies unter einem ganz anderen Licht, sie prophezeien dem Menschen eines Tages als „[…] zweibeinige Maschinen und Dampfkessel […]“ ihr Leben zu fristen. Deutlich wird hier der bedrohende Charakter dieses Fortschritts der Technik, der letztendlich den Erfinder dieser Entwicklungen selbst zur Maschine werden lassen. Ein Weg der unausweichlich scheint. Damit klingt wiederrum hier wie auch an vielen Stellen des Textes das Prinzip des Sozialdarwinismus an, dessen Darstellung sich Kretzer hier in seinem Sozialen Roman verschrieben hat. Das Leben des Meister Timpe scheint nach und nach zu einem Schattendasein zu führen, da er sich entschieden, was die Belange seiner Wohnverhältnisse angeht, gegen diese Entwicklungen stellt. Schließlich findet er sich in einem „[…] Leben auf dieser Scholle […]“ (S.38) wieder. Diese und weitere Metaphern die dem Archiv der Natursymbolik entstammen finden sich durchgehend im Text. Das Ungeheuer der Großstadt verschlingt bis zum Ende Frau Timpe wie auch den Meister selbst und es zeigt sich nach dem Prinzip des Darwinismus, dass eine Verhinderung der Entwicklung unmöglich ist. Es offenbart sich das Naturgesetz des Sieges des Stärkeren über die Schwächeren. So heißt es an einer Stelle des Textes: „Es war der große soziale Kampf des Jahrhunderts, in dem immer dasselbe Feldgeschrei ertönte: ‚Stirb du, damit ich lebe!‘ “ (S.132).
Ganz anders scheint der Fabrikant Urban mit den Umwälzungen seiner Zeit umzugehen. Er wird nach der Manier von kontrastiver Schwarz-Weiß-Malerei wie ein Kritiker titelt, zum ständigen Nutznießer dieser Entwicklungen. Er hat die Prinzipien des Marktes ebenso erkannt wie Timpe, stellt sich aber bewusst den herannahenden Entwicklungen und macht auch Timpe ein Angebot, sich diesen zumindest durch den Verkauf seines Grundstückes zu entziehen. Urban hat längst erkannt: „Unser Jahrhundert verlangt Neuerungen, nur Neuerungen. Der Alte stürzt, und neues Leben stürzt aus den Ruinen!“ (S.139). Hier dürfte sehr deutlich sein, dass er bewusst nicht „das Alte stürzt“ in seinen Ausführungen verwendet, sondern sich bewusst gegen Timpe wendet. Zunächst glaubt Timpe nur in Urban seinen Feind erkannt zu haben. Dieser wird seiner Rolle als Stellvertreter für den transitorischen Stadtcharakter gerecht. Auch die Umgebung um Timpe herum ist der Veränderung begriffen. Spätestens als der Bau der Berliner Stadtbahn beginnt, ist Timpe dem Fortschritt vollends ausgeliefert. „Das neue Berlin hatte in das alte eine Bresche geschlagen und überflutete mit seinem frischen Leben die Ruinen.“ (S.109). Zu diesen Ruinen zählt auch nunmehr das Wohnhaus der Timpes, das schon zu Beginn den Charakter eines Keils in dem Stadtbild erhält. Um den Fortschritt der Stadt Berlin selbst zu ermöglichen mussten „Hinterhäuser […] heruntergerissen, Vorderhäuser durchschnitten, ganze Grundstücke durchtrennt werden, um dem Dampfroß einen Weg durch das Steinmeer zu bahnen.“ (S.137.)
Eine auffallend erwähnenswerte Sonderrolle nimmt zwischenzeitlich Emma, die Stieftochter Urbans ein, die sich später mit dem Sohn Timpes verheiraten wird. Denn sie brachte ihr Leben in den frühen Kindesjahren auf dem Lande zu. Sie markiert einen kleinen Kontrapunkt zum Städtischen, der sich jedoch im Laufe der Handlung aufzulösen scheint. In romantischer Schwärmerei und Verklärtheit setzt sie dem Großstadttreiben Berlins bewusst ein natürlich-idyllisches Bild des Landlebens entgegen. Es wird schnell deutlich, dass sie damit die Rolle eines Außenseiters einnimmt, wenn sie durch die Städter als eine „Landpomeranze“ (S.46) wahrgenommen wird, über deren ländliche Manieren man sich nur wundert. Sie stellt sich zu Anfang gegen die Ausrottung der letzten natürlichen Elemente ihrer Umgebung, die Abholzung der letzten störenden Bäume: „Weil die Bäume nicht rechnen können, sollen sie fallen!“ (S.52). Dieser Aufruf bleibt allerdings ungehört denn „[…] nur, was […] gefällt und nützlich erscheint, hat bleibenden Wert [.]“ (S.52/53). Ihre Sonderstellung im städtischen Milieu wird zudem dadurch verstärkt, dass sie von allen Personen als eine Entfremdete wahrgenommen wird. Die Entfremdung, die in der Romantik noch dem Menschen galt, der sich dem Natürlichen enthebt, gilt hier Emma, die zurückgezogen vom Stadtleben aufwuchs. Die Akzentverschiebung ist hier zwar nur in einem kleinen Anklang angedeutet, wird aber durch den größeren Zusammenhang zwischen den Personen deutlicher. Schließlich wird auch sie von den Entwicklungen nach kurzer Zeit ergriffen und beugt sich allen Veränderungen, ganz wie es die darwinistische Theorie des Naturalismus verlangt. Hier wird auch der Determinismus deutlich. Denn keine Person im Werk besitzt wirklich die Macht, sich gegen ihre Verhältnisse zu wehren.
Zu den Personen, die gewissermaßen beide Lebenswandel durchlebt haben, das heißt zunächst den kleinbürgerlich zum Ende proletarischen bis hin zum reichen Industriellen, zählt der Sohn Timpes. Auch er wächst zunächst ein wenig wie von ländlich anmutender Kleinstadtidylle im ruhigen Stadtviertel Berlins auf. Er besitzt einen besonderen Platz im elterlichen Garten, der einen Ruhepunkt zum Stadtreiben markiert. Jeden Abend blickt er hinaus in die weite Stadt von seinem Ausguck auf einem Baum, der von den Eltern „Franzens-Ruh“ getauft wird. Dieser besondere Platz in der Handlung gewährt ebenso einen Wechsel zwischen einem mikrokosmischen und makrokosmischen Blick auf die Stadt. Hier liefert der Text durchgängig eine Makroansicht der Stadt Berlins, die detailgetreu auf den tatsächlichen Begebenheiten dieser Zeit beruht. Denn der Naturalist Kretzer versucht hier möglichst realistisch auf tatsächlichen Sachverhalten begründet ein Bild der Stadt Berlin zur Zeit der Gründerjahre zu zeichnen. An diesen Stellen des Textes wird die Ambivalenz der Stadt vollends deutlich. Denn ähnlich wie die Naturschilderungen Emmas träumt sich Franz Timpe in eine städtische Idylle hinein, die ihren eigenen Charakter von Schönheit entwickelt. Fast schon schwärmerisch und romantisch nimmt er von hier „[…] die Riesengasometer einer Gasanstalt [wahr], die sich wie Festungsbollwerke ausnahmen; und hinter ausgedehnten Holzplätzen eine Zementfabrik, deren ewig aufwirbelnde weie Staubwolken due Luft durchzogen und einen scharfen Kontrast zu den sich auftürmenden Kohlenbergen der Gasanstalt bildeten.“ (S.60). Weiterhin wird an dieser Stelle nochmals deutlich wie eng das Städtische in Kretzers Werk mit dem Industriellen verzahnt ist.
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Wie bei der Analyse des Textes deutlich geworden ist, erweist sich das Motiv der Stadt im Text Kretzers als ein weitaus komplexeres Phänomen als in den Texten der Romantik. Es wirkt nicht nur handlungsauslösend, sondern strukturiert den Text ebenso. Eine Strukturierung findet sich durch die allegorisierte Person des Fabrikants Urban, der stellvertretend für den Fortschritt und die Urbanisierung, den Text dahingehend strukturiert, dass er als wesentlicher Anhaltspunkt für den Kontrast zu Timpe bildet. Urban wird durch die Darstellungsweise Kretzers ebenso zur Figur der personifizierten Industrialisierungswelle. Man kann im Sinne KLOTZs in jedem Fall von einer maßgeblichen Durchdringung des Textes durch die Stadt sprechen, sie wirkt dabei sowohl handlungsauslösend wie auch strukturierend.
Meister Timpe ist dieser Figur kontrastiv entgegengestellt und markiert im Text eine antimoderne und rückwärtsorientierte Haltung. Damit verschließt er sich gegen die Entwicklungen seiner Zeit. Durch dieses Verhalten entgleitet ihm zunehmend sein Lebensraum Berlin, der sich umso mehr seiner Kontrolle entzieht. In Bezug auf SCHERPE vollzieht Kretzer durch die Figur des Urban eine metaphorische Rede über die Stadt, die er in der Figur des Urban zusammenfassend darstellt. Dies stellt eine Strategie dar, um die Komplexität der Großstadt greifbar zu machen und dies gibt ihr gleichzeitig den Charakter einer tatsächlich handelnden Person. Hierfür spricht auch der sprechende Name der Person, indem hier Urban stellvertretend für Urbanität steht, die die Figur sowohl verkörpert als auch vollends auslebt. Diese Strategie der Bewältigung der Großstadtkomplexität stellt eine vergleichsweise eigentümliche und neue Form dar. In dieser Art der Darstellung finden sich ebenso die negativ besetzten Gefühlskomplexe der Großstadt wieder. Denn da der Meister Timpe die Hauptfigur der Handlung bildet und sein Schicksal am eindringlichsten dargestellt wird, wird gewissermaßen Partei für diese Figur ergriffen. Der Leser beginnt allmählich Mitleid mit der Figur des Meisters zu empfinden und beginnt sich zu identifizieren. In der Figur des Timpe sieht man die Technikfeindlichkeit der Zeit wieder und auch die Ängste der Menschen, die sie in der Begegnung mit dem schlagartig Neuen empfinden. Diese Einstellung der Person wird in der Erzählung zur sozialmythologischen Äquivalente. Dies wird zudem dadurch gestärkt, dass vor allem Timpe selbst die Stadt in Sinne negativer Sichtweisen, die Stadt mit apokalyptischen Bildern beschreibt. Diese Strategie der Wahrnehmungskategorisierung lässt sich später vor allem im Expressionismus wiederfinden. Das ambivalente Bild findet hier in besonders hohem Maße seinen Ausdruck, weil sowohl die positiven Entwicklungen durch Urban, als auch die negativen durch Timpe dargestellt werden.
Der Blick der Figuren auf die Stadt ist längst kein distanzierter mehr wie in den Texten der Romantik. Wo Ferdinand noch eher passiv am Domplatz in Tiecks Erzählung verweilt und gewissermaßen die Eindrücke genießt, oder der Vetter der vom Eckfenster in Hoffmanns Erzählung auf den Markt blickt. Die Figuren dieser Handlung sind voll in die Geschehnisse am Handlungsort eingebunden und werden maßgeblich durch diese bestimmt und determiniert.
Ein weiterer wichtiger Charakter des Stadtmotivs der Moderne, den der Text abbildet ist, dass die Stadt in einem ständigen Umbau begriffen ist. Wie in der Analyse durch den Bau der Stadtbahn deutlich wurde. Die nahezu unmögliche Wahrnehmung der Großstadt als Komplex aus Einzelphänomenen wird dadurch unmöglich, dass diese einer ständigen Veränderung unterliegen. SCHERPE schreibt hierzu: „Die moderne Stadt existiert überhaupt nur noch im Umbau, das Transitorische wird zu ihrer Existenzform.“
Einen ebenso erwähnenswerter Punkt der Erzählung bekommt das Stadtmotiv durch die detailgetreuen Schilderungen Kretzers. Denn der Bau der Stadtbahn und die damit verbundene Umwälzung des Berliner Viertels hat so tatsächlich stattgefunden. Damit erhält der Text zusätzlich zu seiner kategorisierten Wahrnehmung durch die Hauptfiguren eine realistische Komponente. Überhaupt bietet der Erzähler, der sich zurückhaltend verhält und nicht in die Handlung eingreift, mehrere Ansichten der Stadt, was wiederrum für eine angestrebte vielschichtige Darstellung spricht und gleichzeitig die Ambivalenz stark zum Ausdruck bringt. Während durch die Personen selbst eine gewisse Wahrnehmungsart dargelegt wird, erlebt man den Handlungsraum aus einer Art Makroansicht durch den Erzähler, der in der Erzählung hin und wieder Schilderungen, der sich verändernden Umgebung in nüchterner Weise schildert, die frei ist von regulativen Wahrnehmungstätigkeiten und Wertungskategorien. Greift man hier wieder auf die Ansätze der Motivbildung zurück so finden sich die Ausführungen HÅRD/ STIPPAKs in den Figuren selbst wieder.
Auffallend ist ebenso die Romantische Tradition auf die Kretzer auch Bezug nimmt, wenn er die Figur vom Lande, Emma, auftreten lässt. Sie beschreibt in einer romantischen Verklärtheit die Verhältnisse vom Land, auch wenn ihre Ansichten für die Handlung nur eine untergeordnete Rolle spielen, so sind diese doch sehr auffallend in die Erzählung eingearbeitet. Denn immerhin widmet ihr Kretzer ein ganzes Kapitel seines Romans. Hier lässt sich gewissermaßen das Modell der „monotonen Stadt“ auf die Erzählung anwenden. Denn Emma nimmt Berlin als einen Ort der Entfremdung vom Natürlichen wahr und ist zunächst nicht sonderlich bestrebt sich diesem anzupassen. Durch die Liaison mit dem Sohn Timpe ändert sie jedoch ihre Haltung zugunsten Franz´ der sich einer völlig anderen Wahrnehmung verschrieben hat. Für ihn ist die Stadt eine Chance und übt eine vergleichsweise noch größere Faszination auf ihn aus, als auf Urban.
Ebenso auffallend ist wie der Naturalismus in der Tradition des Sozialen Romans die Stadt zu einer sozialen Frage formt. Denn die Stadt bedeutet neben den hier beschriebenen Darstellungen knallharter Überlebenskampf der Figuren unter den Gesetzen der Ökonomie. Die Naturgesetze scheinen hier in einer völlig neuen Form in Erscheinung zu treten, indem das Überleben des Einzelnen nicht nur von der reinen Lebenserhaltung, sondern ebenso von der Fähigkeit zum Erkennen ökonomischer Prinzipen abhängt.
Insgesamt ist die Dichte und Intensität in der der Handlungsraum Stadt aus dem Text hervorragt, gemessen an den zuvor analysierten Werken wesentlich größer. Nicht nur ein Erzähler beschreibt den Raum der Handlung mit seinen Eigenheiten, auch die Figuren nehmen weitaus direkteren Bezug zu ihm auf und liefern dem Rezipienten ihre eigenen Erfahrungen, die sie von der Stadt als Raum der Handlung machen. Kretzer geht hier mit einer weitaus größeren Sensibilität an den Diskurs der Großstadt heran und versucht mittels vielseitiger Perspektiven ein Bild zu liefern. Die Merkmale der Motivbildung, die einzelne Autoren anführten und die HAUSER als zusammenhängend betrachtet, lassen sich hier im Text allesamt nachweisen. Zudem liefert Kretzer mit der Allegorie des Fabrikanten Urban eine weitere Darstellungsmöglichkeit.
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Abschließend zu allen Untersuchungen der Texte soll hier nochmals ein Vergleich abgebildet werden. Wie aus der letzten Analyse deutlich wurde, kann in der modernen Literatur von einer eindeutigen Intensivierung des Gebrauchs des Stadtmotivs gesprochen werden. Während sich in den romantischen Texten Ansätze nachweisen ließen, steht die Stadt im letzten Text weitaus mehr im Vordergrund. Besonders interessant ist der Text Hoffmanns der mit seiner Darstellung und Thematik einen Zwischenschritt in die Moderne bedeutet, da er erstmals Ansätze aufweist, die in dieser Form in der modernen Literatur konsequent weiter verfolgt wurden. Ebenso wurde gezeigt, dass die Ansätze, die die einzelnen Autoren der Forschung anhand der Moderne konstruieren, in einer abgewandelten und weniger intensiven Form in der Literatur der Romantik nachweisbar sind. Anders als in der Moderne findet jedoch in der Romantik noch keine eindeutige Wertung statt. Die Romantik versteht sich nicht in diesem Maße wie die einsetzende Moderne als Technikfeind oder als Ankläger sozialer Umstände in den Städten. Dennoch wagt man in der Romantik, wie am Text Tiecks gut deutlich wurde, die Entfremdung von der Natur. Der Begriff der Stadt, wahrgenommen als ein Labyrinth findet in diesem Stadtmärchen bereits seinen Ausdruck als Ferdinand sich in den Tiefen der Straßen zu verlieren scheint. Der Begriff des Fremden der dabei in den Vordergrund rückt, spielt schließlich in Meister Timpe ebenso eine Rolle wie in diesem frühen Text der Stadtliteratur. Damit entwickeln auch die beiden Texte der Romantik einen modernen Charakter, der hier langsam zum Ausbruch kommt.
Auffallend sind nach abgeschlossener Analyse die zahlreichen Parallelen, die sich zwischen den Texten ausmachen lassen und das obwohl zeitlich und erkenntnistheoretisch gesehen, ein weiter Weg zwischen beiden literarischen Strömungen liegt. Damit offenbart sich die Entwicklung der Literatur auch literaturtheoretisch als eine komplexe Entwicklung, die bis zu ihren Wurzeln zurückverfolgt werden kann.