12.11.11

Berliner Abend - Paul Boldt



Berliner Abend
Spukhaftes Wandeln ohne Existenz!
Der Asphalt dunkelt und das Gas schmeißt sein
Licht auf ihn. Aus Asphalt und Licht wird Elfenbein.
Die Straßen horchen so. Riechen nach Lenz.

Autos, eine Herde von Blitzen, schrein
Und suchen einander in den Straßen.
Lichter wie Fahnen, helle Menschenmassen:
Die Stadtbahnzüge ziehen ein.

Und sehr weit blitzt Berlin. Schon hat der Ost,
Der weiße Wind, in den Zähnen den Frost,
Sein funkelnd Maul über die Straße gedreht,
Darauf die Nacht, ein stummer Vogel, steht.

(1914)


Suche nach dem Ich
In diesem Gedicht von Boldt fällt auf, dass es sich um ein Gedicht ohne Ich handelt. Das Subjekt wird hier vollkommen ausgeklammert. Es werden vielmehr Eindrücke beschrieben, die das lyrische Ich hat, ihnen aber passiv gegenübersteht und sich hier mit einer Wiedergabe derselben, freilich in subjektiver Weise, begnügt. Diese Machart ist typisch für den Expressionismus, aber auch für viele andere Werke, die in der Moderne entstanden sind. Der Grund für die Ausklammerung des Ichs liegt in der Ansicht der Machtlosigkeit des Einzelnen im Angesicht des Pluralismus und der Zertrümmerung jeglicher Identität. Diesen Umstand kann man in fast jedem Gedicht mit dem Großstadtmotiv wiederfinden. Der Mensch ist nicht mehr in der Lage sich zu erkennen. Die Welt ist undurchsichtig geworden und auch das Ich hat erkannt, dass die Vorstellung vom geschlossenen Selbst eine erfundene ist. Fragt man nach den Gesetzen, den vermeintlichen Regeln des Lebens und der Identitätsbildung, bemerkt man dass man sich in einer Scheinwelt bewegt hat. Und das ganze Konstrukt beginnt zu kippen, die Häuser stürzen ein, es nimmt apokalyptische Züge an. Schon die Eingangszeile des Gedichts verdeutlicht dies. Es ist ein Wandeln ohne eigentliche Existenz, das was man glaubte was ist, existiert nicht. Im weiteren Verlauf finden wir eine Gleichsetzung der Großstadtästhetik mit der Natur, das heißt die Stadt erscheint hier als natürlich, gegeben, vorhanden und wird zum Lebensraum, dem sich der Mensch ebenso wenig wie den Gewalten der Natur widersetzen kann.

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